Katrin Arrieta
aus „ Unschärfe und Imagination - Malerei in Bewegung. Vier Positionen aus Mecklenburg-Vorpommern“, Katalog Salzburg 2009

... Als Maler und Zeichner war Udo Rathke von Anfang an auf eine schwebende Raumsituation mit offenen Formen ohne Konturen und perspektivische Anhaltspunkte aus gewesen; ihn interessierte die chaotische Struktur mit den ihr eigenen universellen Möglichkeiten der Formbildung. Zunächst an figürlichen Arbeiten erprobt, trieb Rathke dieses prozesshafte, dabei auf eine ausgewogene Bildordnung orientierte Malen in den 90er Jahren zu einem vorläufigen Endpunkt. Sein Vorgehen war ein durchaus diszipliniertes, mit Kunstgeschichte korrespondierend und darin sich verankernd. Zweifellos hat Rathke Methodisches aus der Malerei und Zeichnung des „Informel“ übernommen, aber – und hier trifft er sich mit einem informellen Maler wie Bernard Schultze – auch frühere Perioden der Kunstgeschichte eignete er sich auf eine struktural zu nennende Weise an. Die barocke, klassizistische und romantische Landschaft beschäftigte ihn ausnehmend. Anlässlich eines Aufenthaltes in der Villa Massimo in Rom 1993/94 entstand eine Folge „imaginärer Ansichten“ der italienischen Landschaft: Udo Rathke bezog sich darin mehrfach auf die Bild gewordene Sicht bedeutender künstlerischer Vorfahren auf diese Umgebung: Nicolas Poussin (1594-1665), Claude Lorrain (1600-1682), Joseph Anton Koch (1768-1839), Karl Phillip Fohr (1795-1818) – jene, die diese Landschaft als Sinnbild des Universums gelesen hatten, als „ideale Weltlandschaft“, nicht in „emotionalem Überschwang“1, sondern ausgehend von ihrem ergründenden „empirischen Empfinden“2. Diese Selbstaussage Rathkes ist eine programmatische, für sein Schaffen bis heute gültige. In den Blättern der „imaginären Ansichten“ verschmelzen Farbe, Zeichnung und das Relief des Papiers zu einer dichten Gesamtstruktur, aus der jeweils auf verschiedene Seh-Einstellungen bezogene farbige und grafische Inseln wechselnd hervortreten. Der Eindruck von Stofflichkeit, verstärkt durch die objekthafte Wirkung des unregelmäßig geschnittenen Papiers, konterkariert den räumlichen, hebt die durch Farbe entstehende Tiefendimension wieder auf, was dazu führt, dass die „imaginäre Ansicht“ sich quasi rhythmisch nur für Sekunden öffnet und wieder schließt, die Wahrnehmung vom Ding zum Raum hin und her pendelt.

Als Udo Rathke vor einigen Jahren den Computer als Werkzeug für sich entdeckte, war dies der Anlass, das Moment der Imagination in diesem anderen Medium vom Stofflichen zu lösen und damit gleichsam zu entgrenzen. Er begann, Bewegung ins Bild zu holen, die bisherige formale Offenheit ins Zeitliche zu erweitern. Die nun entstandenen „moving paintings“ setzten die „imaginären Ansichten“ direkt fort. Es sind Filmsequenzen mit dezidiert malerischem Ansatz, die die anfangs simultane Zuständlichkeit seiner Bilder in eine asynchron fließende wandeln. Die Methoden des Gestaltens am Computer sind vielfältig: Sukzessives Einfärben, Montieren und Überlagern verschiedener Bildschichten, Auf- und Abblenden von Helligkeit, An- und Abschwellen farblicher Sättigungen und Kontraste. Der Wechsel des visuellen Spektrums vollzieht sich langsam – ganz im Gegensatz zum herkömmlichen Film. Es geht um Kontinuität der Wahrnehmung, um Vertiefung durch gesteigerte Suggestion, nicht Geschwindigkeit. Landschaftliche Bildungen, Wolken und Wasser bleiben Gegenstände, deren unscharfe Formcharaktere Rathke deutlicher denn je herausstellt, einhergehend mit einer jetzt vom Inneren der Bildräume aus sich entfaltenden Strahlkraft der Farbe. Eine wachsende Tendenz zur Monochromie bringt diese Bilder in die Nähe minimalistischer Malerei mit ihrem meditativen Potential, während das immer noch vorhandene thematische Motiv der Landschaft als Bekenntnis zum existenziellen Deutungsvermögen des romantischen Weltbildes wohl richtig zu verstehen ist.

Parallel zu den „moving paintings“ setzte Udo Rathke sein handschriftliches Oeuvre auf Papier fort, gleichzeitig entstanden die so genannten „liquid images“, in deren Nachbarschaft sich weitere Filme entwickelten. Kennzeichnend für die „liquid images“ ist, dass Rathke dafür Ausschnitte digitalen Bildmaterials aus dem Internet verwendete. Extrem fragmentiert und vergrößert, ist diesen Bildern ihr Ursprung nicht mehr anzusehen, in ihrer ausgesprochen unkenntlichen Verfassung entdeckt Rathke jene offene Grundstruktur des Chaos wieder, auf die es ihm ankommt. Indessen beschränkt er sich nicht auf die virtuelle Welt des Internets als Reservoir bildnerischen Ausgangsmaterials, sondern macht sich auch selbst mit der Kamera auf den Weg, um aufzunehmen, was ihm dort wortwörtlich vor die Füße kommt: So bleibt Udo Rathke zuletzt ein in der geistigen Erfahrung der Wirklichkeit - dem „Empirischen“ – verwurzelter Künstler....